Die Chemotherapie ist neben der Strahlentherapie und der Operation eine der zentralen Säulen der Krebstherapie. Die dabei eingesetzten Medikamente, sogenannte Zytostatika oder Chemotherapeutika, bekämpfen bösartige Tumore, greifen Krebszellen an und verhindern deren Vermehrung. Chemotherapeutika schädigen jedoch nicht nur Tumorzellen, sondern auch gesunde Zellen, was zu zahlreichen Nebenwirkungen führen kann, wie Übelkeit und Erbrechen. Cannabinoide spielen eine wichtige Rolle in der Bekämpfung dieser äußerst belastenden Beschwerden.
Übelkeit und Erbrechen – Nebenwirkungen der Chemotherapie
Zu den häufigsten und von Krebspatienten und -patientinnen am meisten gefürchteten Nebenwirkungen einer Chemotherapie gehören Übelkeit und Erbrechen (CINV). Die Beschwerden können so stark sein, dass manche Betroffene die Therapie abbrechen und dadurch den Behandlungserfolg gefährden. Daher sind Medikamente gegen Brechreiz – sogenannte Antiemetika – fester Bestandteil einer Chemotherapie. CINV ist die Abkürzung für Chemotherapie-induzierte Nausea (Übelkeit) und Emesis (Erbrechen) bzw. Vomiting, der englische Ausdruck für Erbrechen.
Ungefähr 500.000 Menschen erkranken in Deutschland nach Schätzungen des Robert-Koch Instituts jährlich neu an Krebs. Die Tendenz steigt aufgrund der zunehmenden Alterung der Bevölkerung. Bei Frauen ist Brustkrebs die häufigste Diagnose, bei Männern Prostatakrebs [1].
Akutes Erbrechen kann mittlerweile dank hochwirksamer Serotonin-Antagonisten und anderer Antiemetika gut behandelt werden. Übelkeit und verzögertes Erbrechen ist schwieriger therapierbar. Cannabinoide können hier eine sinnvolle zusätzliche Therapieoption sein.
Häufigkeit und Risiko von Übelkeit und Erbrechen unter Chemotherapie
Der Schweregrad sowie die Dauer von Übelkeit und Erbrechen sind abhängig vom Krebsmedikament, der Dosierung, von gleichzeitig eingenommenen Medikamenten sowie von individuellen Risikofaktoren der Patient*innen. Im Wesentlichen richtet sich die Behandlung der Übelkeit nach der emetogenen Wirkung des Zytostatikums, also nach der Fähigkeit des Chemotherapeutikums Brechreiz auszulösen.
Risiko für CINV, wenn kein Antiemetikum eingenommen wird
- Hochemetoge Chemotherapie: mehr als 90%
- Moderatemetoge Chemotherapie: 30-90%
- Geringemetoge Chemotherapie: 10%
- Minimalemetoge Chemotherapie: weniger als 10%
Mit einer antiemetischen Therapie kann hier Abhilfe geschaffen werden. Allerdings haben trotz optimaler Behandlung 20 bis 30 Prozent der Krebspatientinnen und Krebspatienten mit Erbrechen und 40 bis 50 Prozent mit Übelkeit zu kämpfen [2].
Einteilung von CINV
Je nachdem zu welchem Zeitpunkt der Chemotherapie die Symptome auftreten, werden drei Formen unterschieden:
- Akutes Erbrechen beginnt innerhalb von 24 Stunden nach Beginn der Chemotherapie.
- Verzögertes Erbrechen tritt erst nach mehr als 24 Stunden nach Beginn der Chemotherapie auf. Die Symptome können allerdings bis zu fünf Tage anhalten.
- Antizipatorisches Erbrechen („erlerntes Erbrechen“) tritt schon vor Verabreichung des Zytostatikums auf. Es wird durch äußere Faktoren ausgelöst. Bei manchen Betroffenen reicht schon das beängstigende Umfeld im Krankenhaus aus oder die Erinnerung an Beschwerden bei einer vorherigen Chemotherapie – verbunden mit einer negativen Erwartungshaltung – um Übelkeit auszulösen [3].
Zu den Symptomen von CINV gehören Übelkeit, Würgereiz und Erbrechen. Nach internationalen Richtlinien der Common Terminology Criteria for Adverse Events (CTCAE) unterscheidet man fünf Schweregrade [3]:
Schweregrad |
Übelkeit |
Erbrechen |
0 |
keine |
keine |
1 mild |
leicht |
1-2 mal pro Tag |
2 mäßig |
mittel |
3-5 mal pro Tag |
3 schwerwiegend |
stark |
6 mal pro Tag oder häufiger |
4 lebensbedrohlich |
– |
lebensbedrohlich |
Warum kommt es zu Chemotherapie-induziertem Erbrechen?
Bei der Enstehung der CINV sind unter anderem die beiden Hormone Serotonin und Substanz P beteiligt. Die Hauptrolle beim akuten Erbrechen spielt Serotonin. Hierbei werden sogenannte enterochromaffine Zellen (EC-Zellen) im Magen-Darm-Trakt durch die Krebsmedikamente stimuliert. Diese Zellen erkennen normalerweise Aromastoffe aus der Nahrung und sondern dann Serotonin ab, um die Verdauung zu fördern [4]. Durch die Chemotherapie wird massiv Serotonin frei. Dieses bindet an Serotonin-Rezeptoren (5-HT3-Rezeptoren) im Darm. Der Körper leitet das Signal zum Brechzentrum weiter – mit dem Ergebnis, dass sich die betroffene Person erbrechen muss.
Verzögertes Erbrechen wird durch den Botenstoff Substanz P ausgelöst. Chemotherapeutika stimulieren die Freisetzung des Hormons im zentralen und peripheren Nervensystem. Substanz P heftet sich an Neurokinin-Rezeptoren und führt zu verzögertem, mehrere Tage anhaltendem Erbrechen [5].
Weitere Rezeptoren, die bei Übelkeit eine Rolle spielen, sind Histamin-Rezeptoren, Dopamin-Rezeptoren sowie Muscarin- und Cannabinoid-Rezeptoren.
Therapie von Chemotherapie-induziertem Erbrechen
Medikamente gegen Brechreiz, sogenannte Antiemetika, sind fester Bestandteil einer Krebstherapie. Am besten wirken sie, wenn sie vorsorglich (prophylaktisch) eingenommen werden. Kommen sie erst beim akuten Auftreten von Erbrechen zu Einsatz, sind die Medikamente oft kaum noch wirksam.
Eine effektive antiemetische Therapie – von der allerersten Chemotherapie an – ist wichtig, um die Entwicklung von antizipatorischem Erbrechen zu verhindern [3]. Abhängig davon, wie sehr die jeweilige Chemotherapie Übelkeit hervorrufen kann, und abhängig von den Beschwerden, werden unterschiedliche Wirkstoffgruppen eingesetzt. Diese können auch miteinander kombiniert werden:
- Serotonin-Rezeptoren Blocker (5-HT3 Antagonisten): Zu den Serotoninantagonisten gehört beispielsweise das Medikament Ondansetron. Sie hemmen die Serotonin-Rezeptoren sowohl im Darm als auch im Brechzentrum. Durch enterochromaffine Zellen ausgeschüttetes Serotonin kann daher nicht mehr binden, wodurch der Brechreflex unterbleibt. Am besten wirken sie bei akutem Erbrechen.
- Neurokinin 1-Rezeptoren Blocker (NK1-Antagonisten): Bei verzögertem Erbrechen wird beispielweise der Wirkstoff Aprepitant eingesetzt. So kann das Hormon Substanz P nicht mehr an seine Rezeptoren binden.
- Corticosteroide: Am häufigsten wird der Wirkstoff Dexamethason eingesetzt. Sie werden meist mit Antiemetika aus anderen Wirkstoffgruppen kombiniert, um akutes und verzögertes Erbrechen effektiver zu bekämpfen [5].
Leiden Patient*innen trotz Einnahme von Serotonin-Blockern, Neurokinin-Blockern und Corticosteroiden weiter an Übelkeit und Erbrechen, werden zusätzlich weitere Medikamente verordnet:
- Dopamin D2-Rezeptoren Blocker (z.B. Metoclopramid): Metoclopramid ist zugelassen gegen verzögertes Erbrechen nach einer Chemotherapie.
- Histamin 1-Rezeptoren Blocker (z.B. Dimenhydrinat): Antihistaminika blockieren die Wirkung des Hormons Histamin, der eine Rolle bei vielen Ursachen für Übelkeit spielt.
- Benzodiazepine (z.B. Lorazepam): Benzodiazepine wirken angstlösend und können daher neben einer Verhaltenstherapie bei antizipatorischem Erbrechen angewendet werden. Sie haben jedoch ein hohes Abhängigkeitspotenzial [3].
Was können Betroffene noch tun, um ihre Beschwerden zu bessern?
- Ruhe und Entspannung: Manchen Patient*innen helfen Entspannungsübungen. Bei auftretender Übelkeit kann mehrmaliges Ein- und Ausatmen oder frische Luft guttun.
- Akupressur gegen Übelkeit: Manche Menschen erfahren eine Linderung ihrer Beschwerden, indem sie auf eine bestimmte Stelle auf der Innenseite des Unterarms drücken.
- Ernährung: Es ist für die Krebspatienten und -patientinnen nicht sinnvoll, sich zum Essen zu zwingen. Am besten sollte nach Appetit gegessen werden. Mehrere kleine Essensportionen über den Tag verteilt sind meist magenfreundlicher als wenige, aber dafür große Portionen. Ingwer ist ein wirksames Hausmittel gegen Übelkeit und kann gerade als Tee auch zum Ausgleich des Flüssigkeitshaushalts beitragen.
- Trinken: Viel Trinken ist wichtig, um die durch das Erbrechen verlorene Flüssigkeit auszugleichen. Melissentee ist gut bekömmlich und wirkt beruhigend.
- Mundpflege: Andauerndes Erbrechen verursacht nicht nur einen unangenehmen Geschmack im Mund, die Magensäure kann auch Zähne und die Mundschleimhäute angreifen. Abhilfe schafft das Ausspülen des Mundes oder Zähneputzen [6].
Cannabinoide gegen Übelkeit und Erbrechen bei Chemotherapie
Medizinisches Cannabis kann einige der häufigsten Beschwerden lindern, die im Rahmen einer Krebserkrankung und deren Therapie auftreten können. Viele Patient*innen haben nicht nur mit CIND zu kämpfen, sondern auch mit Appetitverlust, starken Schmerzen und weiteren Beschwerden. Cannabinoide können also diverse Symptome bekämpfen und so die Lebensqualität der Betroffenen verbessern. Die derzeitige Evidenzlage bei den verschiedenen Beschwerden ist allerdings sehr unterschiedlich [7].
Wirkmechanimus von THC und CBD gegen CINV
Sowohl Cannabidiol (CBD) als auch Tetrahydrocannabinol (THC) lindern Übelkeit und Erbrechen, insbesondere bei einer Chemotherapie. Diese Cannabinoiden besitzen die Fähigkeit, die Serotonin-Freisetzung durch enterochromaffine Zellen im Dünndarm zu hemmen.
Viele klinische Studien mit Patient*innen haben bereits die Wirkung von THC im Zusammenhang mit Übelkeit und Erbrechen erforscht. Der psychotrope Wirkstoff THC wirkt durch Bindung an CB1-Rezeptoren antiemetisch.
In Tiermodellen wurde festgestellt, dass CBD durch Aktivierung von bestimmten Serotininrezeptoren, den 5HT1A-Rezeptoren antiemetisch wirkt. Durch die Bindung an 5HT1A-Rezeptoren wird die weitere Serotoninproduktion gehemmt, wodurch die Beschwerden abnehmen [13].
Nabilon gegen CINV
Seit dem Jahr 2017 stehen in Deutschland Nabilon-Kapseln (Canemes ®) zur Behandlung von therapieresistenter Übelkeit und Erbrechen bei Chemotherapie zur Verfügung. In den USA ist es bereits seit 1985 zugelassen. Eine kontrollierte Studie an 38 Personen aus dem Jahre 1986 belegte die Überlegenheit von Nabilon gegenüber Domperidon bei der Linderung von Erbrechen. Die Betroffenen berichteten über eine verringerte Übelkeit und einen erhöhten Appetit unter Nabilon. Die Cannabinoid-Therapie war jedoch mit mehr Nebenwirkungen verbunden [9].
Fast die Hälfte der Betroffenen berichten über Linderung
In einer Übersichtsarbeit und Metaanalyse aus dem Jahre 2015 analysierten die Wissenschaftler*innen 79 randomisierte kontrollierte Studien zum Einsatz von Medizinalcannabis bei CINV und anderen Erkrankungen (chronische Schmerzen, Appetitstimulation bei HIV/AIDS, Spastizität, Tourette Syndrom, Schlafstörungen, Psychosen, Angsterkrankungen, Glaukom). Insgesamt wurden die Daten von 6.462 Patientinnen und Patienten ausgewertet. Es kamen verschiedene Cannabinoid-Medikamente zum Einsatz: Cannabidiol, Dronabinol, Nabilon und Sativex®.
Die Ergebnisse zeigten, dass bei der Einnahme von Cannabinoiden 47 Prozent der Studienteilnehmenden eine deutliche Linderung von Übelkeit und Erbrechen verspürte. In der Placebogruppe berichteten nur 20 Prozent der Personen von einer Besserung. Die Einnahme der Cannabinoide war jedoch mit einem erhöhten Risiko für vorübergehende Nebenwirkungen, wie Schwindel, Mundtrockenheit oder Schläfrigkeit verbunden. Einschränkend stellt das wissenschaftliche Team fest, dass die Evidenzlage bei CINV derzeit schwach ist. Bei chronischen Schmerzen und Spastizität ist die Evidenz besser [10][11].
83% der Patient*innen bevorzugen THC/CBD zusätzlich zur bestehenden Medikation
Eine aktuelle Studie der Universität Sydney untersucht derzeit die Wirksamkeit eines THC/CBD-Extrakts in Form von Kapseln bei Krebspatient*innen mit CINV, die trotz Einnahme der antiemetischen Standardmedikamente an Übelkeit und Erbrechen leiden.
An der Untersuchung von 2020 nahmen 81 Krebspatient*innen teil, bei denen drei aufeinander folgende Chemotherapie-Zyklen anstanden. In der Cannabinoid-Gruppe haben die Teilnehmenden THC/CBD-Kapseln über sechs Tage zusätzlich zur Standardtherapie eingenommen. Die erste Anwendung erfolgte am Tag vor der ersten Verabreichung des Krebsmedikaments. Die Placebo-Gruppe nahm ein Scheinmedikament. Im nächsten Chemotherapie-Zyklus wurden die Gruppen getauscht, daher wird dieses Studiendesign auch als Cross-over Studie bezeichnet. Im dritten und letzten Therapiezyklus hatten die Teilnehmenden nun die Wahl zwischen Cannabinoid und Placebo.
83 Prozent der Betroffenen bevorzugten die Behandlung mit THC und CBD, obwohl etwa ein Drittel über leichte Nebenwirkungen klagte. Ein Viertel (25%) berichtete über eine deutliche Reduktion ihrer Beschwerden im Vergleich zu 14 Prozent, die ein Placebo eingenommen haben. Um die Wirksamkeit noch besser zu untersuchen, plant das Forscherteam eine weitere randomisierte kontrollierte Studie. Diesmal werden die 170 Patient*innen entweder THC/CBD-Kapseln oder Placebo über drei Chemotherapie-Zyklen erhalten [12].
Fazit
Die aktuellen Studien zeigen, das Cannabinoide eine wirksame Zusatztherapie zu etablierten Antiemetika sein können. THC scheint ein starkes Antiemetikum zu sein und damit gerade bei schweren Fällen von CINV interessant. Auch CBD scheint gegen Übelkeit zu wirken. Allerdings besteht noch viel Forschungsbedarf, da die Studienlage bisher dünn ist. Zukünftige Forschungsarbeiten mit höheren Personenzahlen zielen darauf ab, Cannabinoide mit einem Placebo als Zusatztherapie zu vergleichen [12]. Weitere wissenschaftliche Forschung ist zu begrüßen, weil gerade bei schwerer CINV viele der Betroffenen trotz Einnahme antiemetischer Standardmedikamente weiter an starken Beschwerden leiden, die nicht nur die Lebensqualität, sondern auch die Krebsbehandlung beeinflussen können.
Quellen:
[6] Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF): Supportive Therapie – Vorbeugung und Behandlung von Nebenwirkungen einer Krebsbehandlung – Patientenleitlinie, 2018 AWMF Registernummer: 032/054OL, https://www.leitlinienprogramm onkologie.de/leitlinien/supportive-therapie/
[9] Pomeroy, M., Fennelly, J.J. & Towers, M. Prospective randomized double-blind trial of nabilone versus domperidone in the treatment of cytotoxic-induced emesis. Cancer Chemother. Pharmacol. 17, 285–288 (1986). https://doi.org/10.1007/BF00256701
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