Aus der Rente zurück in die Erwerbstätigkeit

Ein Interview mit Cannabispatient Christian Hirschfeld

Ein Interview mit Cannabispatient Christian Hirschfeld

Vor 15 Jahren traf Christian Hirschfeld unvermittelt die Diagnose Multiple Sklerose (MS). Verunsichert und mit vielen offenen Fragen wurde er aus dem Krankenhaus in sein neues Leben entlassen. Was es wirklich für Betroffene bedeutet, chronisch krank, arbeitsunfähig und auf Hilfe angewiesen zu sein, ist für viele Außenstehende nur schwer nachvollziehbar. Mit der Unterstützung von Ehefrau, Familie, und Freunden fand Christian Hirschfeld nach vielen Tiefen und Höhnen, Irr- und Umwegen seinen eigenen Weg, mit der Krankheit umzugehen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Kalapa: Herr Hirschfeld, als bei Ihnen die Krankheit Multiple Sklerose diagnostiziert wurde, waren Sie erst 34 Jahre alt – ein junger Mann, der mitten im Leben steht. Was waren die ersten Anzeichen und Symptome, die Ihnen auffielen?

Christian Hirschfeld: Erste Symptome spürte ich eines Nachts Ende 2006. Ich wachte mitten in der Nacht durch ein Kribbeln in meiner linken Gesichtshälfte auf. Im Laufe der Nacht breitete sich das Kribbeln immer stärker aus und am nächsten Morgen war meine linke Gesichtshälfte gelähmt. Ich machte mich natürlich auf den Weg ins Krankenhaus. Dort kam ich direkt auf die Intensivstation. Man legte mir diverse Infusionen, machte eine Lumbalpunktion und unterzog mich anderen diagnostischen Untersuchungen. Im Laufe des Tages kamen bei mir starke Koordinationsschwierigkeiten, Gleichgewichtsstörungen, Sehstörungen und starke motorische Einschränkungen meiner rechten Körperhälfte dazu. Es gab also keine große Vorwarnung, dass ich eine chronische Erkrankung in mir habe. Ich bin innerhalb von 24 Stunden zum Pflegefall geworden. Rückblickend kann ich sagen, dass ich erste Symptome schon als Jugendlicher hatte. Ich hatte oft eingeschlafene Arme und Hände. Dieses wurde aber niemals mit einer chronischen Krankheit in Verbindung gebracht.

Kalapa:In schwierigen gesundheitlichen Zeiten saßen Sie sogar im Rollstuhl – inzwischen sind sie wieder aktiv, treiben Sport und sind berufstätig. Das ist eine ungewöhnliche Geschichte. Wie haben Sie das erreicht?

Christian Hirschfeld: Eine Krankheit anzunehmen, zu akzeptieren und die Krankheitsbewältigung sind immer dauernde Prozesse, mit Höhen und Tiefen. Auch ich musste mich und muss es immer noch, in meinem Patientendasein entwickeln. Das bedeutet, man muss sich sehr stark mit sich und seiner Erkrankung auseinandersetzen. Dazu benötigt man Zeit, gute Informationen, sehr verständnisvolle Lebenspartner, aber vor allem auch die Einsicht, Hilfe und Unterstützung zu suchen und anzunehmen.

Meine Religion wurde die Neuroplastizität. Diese habe ich während meiner ersten Reha im Quellenhof in Bad Wildbad kennengelernt.

Kalapa:Neuroplastizität ist die Fähigkeit des Gehirns zur Neu- und Umstrukturierung, denn das Gehirn lernt permanent. Das bedeutet, dass Menschen mit Hirnschädigungen nicht immer eingeschränkt bleiben müssen.

Christian Hirschfeld: Genau! Alleine das Wissen um die Möglichkeit, dass, von Entzündungen betroffene, teils zerstörte Nervenbahnen repariert oder Synapsen neu verknüpft werden können, war mir extrem hilfreich. Stimulieren muss man das Ganze aber durch Krankengymnastik und anderes Training selbst. In diesen Punkten war ich sehr fleißig, habe aber mit Sicherheit auch einen, zumindest momentan, gnädigen Krankheitsverlauf und einen unerschütterlichen Grundoptimismus.

Kalapa: Inzwischen arbeiten Sie auch wieder …

Christian Hirschfeld: Die Rückkehr in die Berufstätigkeit verdanke ich vielen Faktoren, aber am allermeisten meinem Arbeitgeber und mittlerweile Freund, Dr. Daniel Hölzle, Inhaber der Tiergarten Apotheke in Konstanz. Ich glaube nicht, dass es in Deutschland viele Arbeitgeber gibt, die das Risiko eingegangen wären, jemanden mit meinen gesundheitlichen Diagnosen und Prognosen einzustellen. Herr Dr. Hölzle bietet mir einen auf mich und meine Bedürfnisse maßgeschneiderten Arbeitsplatz und – was genauso wichtig ist – Sicherheit und Vertrauen. Ich muss mir nicht permanent über meine berufliche und finanzielle Situation Sorgen machen. Die Angst vor der Zukunft, gerade in finanzieller Hinsicht, ist für viele Chroniker ein Riesenproblem.

Den Rollstuhl habe ich auf meinem Dachboden stehen. Ich habe ihn schon lange nicht mehr benutzt. Aber für den Fall der Fälle ist er da. Er ist ein gutes Hilfsmittel, wenn mal wieder die Kraft in den Beinen nicht mehr reicht.

Kalapa: Wie haben Sie von der Behandlung mit Cannabis erfahren und wann sind Sie das erste Mal damit in Kontakt gekommen?

Christian Hirschfeld: Aufgrund meiner vielfältigen Symptomatiken, am Anfang meiner Erkrankung, wurde meine Medikationsliste immer größer, meine Probleme mit den Nebenwirkungen dieser Medikamente aber auch.

Ich fing an nach “Multiple Sklerose – Erfolgsgeschichten” zu suchen und habe auch einige gefunden. Diese Menschen hatten alle einiges gemeinsam. Sie haben sich mit dem Thema Ernährung befasst, sie haben sich ihrer Psyche gewidmet, in der Regel haben sie sich viel in der Natur aufgehalten. Zudem haben sie sich in irgendeiner Form sportlich betätigt. Das heißt nicht, dass sie Marathon gelaufen sind. Sie haben verschiedenste Formen von Gymnastik, Stretching, Yoga oder Ähnliches gemacht. Außerdem behandelten sie Spastik, hohen Muskeltonus, Fatigue oder andere MS-Symptome mit Cannabis.

Zu diesem Zeitpunkt wurde in den Niederlanden bereits Medizinalcannabis therapeutisch eingesetzt. Ich habe zu verschiedenen Ärzten Kontakt aufgenommen. Es gab auch schon die Arbeitsgemeinschaft Cannabis in der Medizin, welche auf ihrer Homepage zu diesem Thema Artikel veröffentlicht hatte. In Israel gab es zu diesem Zeitpunkt auch schon Studien und erfolgsversprechende Ergebnisse. Zudem habe ich einen sehr kompetenten Neurologen, mit dem ich diese Thematik auch immer wieder besprochen habe. Bei einem Aufenthalt in den Niederlanden habe ich dann die Initiative ergriffen und es schlichtweg ausprobiert. Es hat mir geholfen. Somit habe ich diesen Weg auch immer verfolgt.

Kalapa: Wie lange nehmen Sie schon Medizinalcannabis ein und was hat sich dadurch in Ihrem Leben verändert?

Christian Hirschfeld: Ich habe bereits 2009 Dronabinol verordnet bekommen, dann 2011 Sativex und dann ab 2017 Medizinal-Cannabisblüten.

Was hat sich geändert? Ich konnte meine Dauermedikationen, wie Antispastika, Antidepressiva und Schmerzmittel deutlich reduzieren. Das entlastet den Organismus enorm. Durch das Cannabis kann ich meinen Muskeltonus schnell und unkompliziert senken. Die schnelle Wirkung per Inhalation ermöglicht mir auch, bei schmerzhaften Spontanspastiken rasche Linderung zu erfahren.

Meine Schlafqualität hat sich deutlich verbessert, somit bin ich am Tag erholter und nicht permanent unausgeruht. Kurzum, meine Lebensqualität hat sich deutlich gesteigert und stabilisiert. Ich kann wesentlich freier am sozialen Leben teilnehmen.

Kalapa: Haben Sie Nebenwirkungen durch die Medikation?

Christian Hirschfeld: Tatsächlich habe ich auch nach all den Jahren immer noch einen extrem trockenen Mund. Das wird durch andere Medikamente auch noch zusätzlich verstärkt und ist vor allem beim Sprechen lästig, aber verschmerzbar. Da ich ja bereits seit langer Zeit ein erfahrener Cannabispatient bin und seit langen eine sehr gute, stabile Medikamenteneinstellung habe, merke ich keine anderen Nebenwirkungen der Cannabismedikation mehr.

Kalapa: Inzwischen arbeiten Sie selbst im Bereich medizinisches Cannabis.

Christian Hirschfeld: Ich habe vor meiner Erkrankung mehrere Jahre für einen genossenschaftlichen Pharmagroßhandel Apotheken beraten und betreut. 2017, nach dem Erlass des Cannabisgesetzes, habe ich festgestellt, dass es an dem Wissen über Cannabis als Therapeutikum, welches ich mir im Lauf meiner Erkrankung angeeignet habe, an allen wichtigen Stellen mangelt. Zudem ist der bürokratische Aufwand auf dem Weg zur Cannabismedikation, sowohl für den Arzt als auch für den Patienten, steinig und aufwendig. Es bestand und besteht immer noch ein enormer Beratungs- und Informationsbedarf.

Kalapa: Diesen Beratungsbedarf sehen auch wir…

Und es freut mich, dass Kalapa hier fundiertes Wissen und neutrale Informationen bietet, die auch für nicht-Mediziner gut verständlich sind. Auch ich wollte dem Informations- und Aufklärungsmangel mit meinen Möglichkeiten entgegenwirken und als eine Art Informationslotse helfen. Schon 2017 tauschte ich mich öfter mit Herrn Dr. Hölzle über die unbefriedigende Situation aus. So entstand die Idee von www.diehanfapotheke.de, einer Informationsseite über Cannabis als Medizin und Versandapotheke für medizinisches Cannabis. Über diese Seite kontaktieren uns Patienten, Ärzte und andere Informationssuchende.

Ich habe zudem 2018 eine Ausbildung zum zertifizierten Sachverständigen für Cannabis Medikation absolviert und bilde mich regelmäßig in diversen Fortbildungen weiter, gebe aber auch mein Wissen in Vorträgen und Seminaren an Ärzte, Selbsthilfegruppen und andere Interessierte weiter. Für meine Arbeit in diesem Bereich sind meine eigenen Erfahrungen als chronischer und Cannabispatient ein großer Vorteil. Ich kenne die Seite der Praxis und Umsetzung aus eigener Erfahrung und eigenem Erleben. Durch die tägliche Arbeit mit den Gesprächen mit Patienten und Ärzten sind mein Wissen und meine Erfahrung natürlich auch enorm gewachsen. Über diese Entwicklung bin ich mehr als glücklich und unendlich dankbar.

About Gesa Riedewald

Gesa Riedewald is the managing director of Kalapa Germany. She has been working as a medical writer on the topic of pharmaceutical cannabis since 2017 and has years of experience in the healthcare sector.

Gesa Riedewald ist die Geschäftsführerin von Kalapa Deutschland. Sie ist bereits seit 2017 als medical writer für das Thema Cannabis als Medizin tätig und besitzt jahrelange Erfahrung im Bereich Healthcare.