Alles eine Frage des Geschlechts? Mehr Aufmerksamkeit für Gendermedizin gefordert

gender medicine

Frauen werden anders krank als Männer. Was wie eine Binsenweisheit klingt, wird erst seit den 90er-Jahren wissenschaftlich untersucht. Gerade in Deutschland hat die sogenannte Gendermedizin enormen Nachholbedarf, auch wenn sich zwischenzeitlich einiges tut. Wir haben mit Prof. Dr. med. Gabriele Kaczmarczyk, Senior Consultant beim Deutschen Ärztinnenbund über die Bedeutung geschlechtsspezifischer Unterschiede in der Medizin gesprochen.

Kalapa: Frau Prof. Kaczmarczyk, die Gendermedizin ist eine vergleichsweise junge Disziplin. In welchen Bereichen zeigen sich die Unterschiede zwischen Männern und Frauen besonders deutlich?

Die Corona-Pandemie beschert der Gendermedizin einen echten Schub. So hat sich beispielsweise ziemlich rasch herausgestellt, dass Männer und Frauen unterschiedlich von Covid-19 betroffen sind: Im Schnitt erkranken Männer schwerer als Frauen und haben eine höhere Mortalität. Das weibliche Geschlecht dagegen zeigt stärkere Reaktionen auf die Impfung gegen SARS-CoV-2 – woraus wir Rückschlüsse auf geschlechtsspezifische Unterschiede in der Immunreaktion ziehen können.

Leider stellt die überwiegende Mehrheit der laufenden klinischen Studien zu SARS-CoV-2 und Covid-19 trotzdem keinen Bezug zu geschlechtsspezifischen Daten her. Damit versäumen wir die Chance, Männer und Frauen im Falle einer Covid-Erkrankung unterschiedlich und damit effizienter behandeln zu können. Professorin Sabine Oertelt-Prigione vom Lehrstuhl für geschlechtersensible Medizin an der neuen Medizinischen Fakultät der Universität Bielefeld vermutet, dass Daten zu Geschlecht und Gender aus Zeitgründen (Publikationsdruck) nicht ausgewertet werden.

Epidemiologische Unterschiede sehen wir darüber hinaus zum Beispiel bei den Autoimmunerkrankungen, etwa den Erkrankungen aus dem rheumatischen Formenkreis. Hier sind Frauen deutlich stärker betroffen.

Kalapa: Wenn wir auf die Wirkung von Medikamenten schauen: Welche geschlechtsspezifischen Unterschiede müssen beachtet werden?

Diese Unterschiede betreffen zunächst einmal die Aufnahme, Verteilung und den Stoffwechsel von Arzneimitteln. So werden manche Medikamente von Frauen langsamer abgebaut, weil die Enzyme in der Leber anders arbeiten. Dazu kommt, dass Pharmazeutika über lange Zeit nur an männlichen Mäusen getestet und Wechselwirkungen mit dem weiblichen Zyklus dabei ausgeklammert wurden. Das alles führt zu Überdosierungen von Wirkstoffen und damit zu häufigen Medikamentennebenwirkungen bei Frauen. Ein typisches Beispiel ist der Betablocker Metoprolol.

Eventuell auftretende Nebenwirkungen sollten daher immer direkt mit den Behandlern besprochen werden. Es ist vollkommen in Ordnung nachzufragen, ob Testergebnisse, Diagnosen oder Nebenwirkungen etwas mit dem eigenen Geschlecht zu tun haben können.

Kalapa: In welchen Bereichen der Frauengesundheit sehen Sie aktuell den größten Handlungsbedarf? Können Sie aus Ihrer Erfahrung bestätigen, dass eine fehlende geschlechtersensible Diagnostik unter anderem dazu führt, dass zum Beispiel Herzinfarkte bei Frauen zu spät diagnostiziert werden?

Frauen zeigen bei einem Herzinfarkt zum Teil andere Symptome als Männer. Häufig fehlt bei ihnen der typische Schmerz im Brustbereich, der mit in den Arm ausstrahlende Schmerzen und Druckgefühl einhergeht. Sie leiden mitunter ausschließlich unter Übelkeit, Schwindel oder Luftnot. Tatsächlich wurden Herzinfarkte bei Frauen früher häufig nicht sofort erkannt, in der Zwischenzeit sind diese Symptome in der Praxis aber doch recht bekannt.

Die Problematik der bereits erwähnten Medikamentennebenwirkungen bei Frauen halte ich für weitaus gravierender. Wir brauchen dringend eine gezielte geschlechtsspezifische Erfassung dieser Nebenwirkungen und Publikationen zu diesem Thema. Darüber hinaus war es an der Zeit, dass Frauen bei der Erprobung neuer Medikamente stärker mit einbezogen werden – wie es die Europäische Zulassungsbehörde nun auch vorsieht. 

Nicht zuletzt ist es wichtig, dass mehr Frauen als Expertinnen in speziellen medizinischen oder allgemeinen gesundheitlichen Fragestellungen wahrgenommen werden. Aktuell stellen Frauen über 60 Prozent der Medizinstudierenden, sind aber immer noch selten in Führungspositionen anzutreffen. Besonders eklatant zeigt sich dieses Missverhältnis im Anteil der Frauen in den Führungspositionen deutscher Universitätskliniken (Lehrstuhl, Klinikdirektion, unabhängige Abteilungsleitung): Gemäß einer Publikation des Deutschen Ärztinnenbundes betrug der Anteil im Jahr 2019 gerade einmal 13 Prozent.

Kalapa: Was muss Ihrer Ansicht nach geschehen, um das Thema geschlechtersensible Medizin angemessen auf die Agenda gesundheitspolitischer Versorgung zu setzen?

Gendermedizin ist keine abstrakte Wissenschaft, sondern hat Relevanz für die medizinische Versorgung der gesamten Bevölkerung. Es ist daher unabdingbar, dass die Curricula an den medizinischen Fakultäten stärker um geschlechtsspezifische Inhalte ergänzt werden. Die Gendermedizin ist weniger ein neues Fachgebiet als vielmehr ein Querschnittsfach. Sie darf nicht als freiwilliges Extrafach betrachtet werden. Vielmehr müssen ihre Inhalte verpflichtende Prüfungsfächer der medizinischen Examina sein. Natürlich gilt das nicht nur für die Humanmedizin, sondern auch für die Lehre in anderen Gesundheitsberufen: zum Beispiel die Krankenpflege oder Physiotherapie. Ich bin sehr froh, dass die Regierungsparteien entsprechende Regelungen im Koalitionsvertrag festgehalten haben.

Quellen:

Aus Zeitmangel kaum Genderforschung zu Corona? ärztin, Zeitschrift des Deutschen Ärztinnenbundes e.V., 12/2021, Seite 10. Zugriff von: aerztin_3.21_web.pdf (aerztinnenbund.de) (3.2.2022)

Medical Women on Top. Dokumentation des Anteils von Frauen in Führungspositionen in 15 Fächern der deutschen Universitätsmedizin. Deutscher Ärztinnenbund (Update 2019). Zugriff von: MWoT_update_2019.pdf (aerztinnenbund.de) (3.2.2022)

Koalitionsvertrag zwischen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP (2021): Koalitionsvertrag (bundesregierung.de) (03.02.2022)

About Mirjam Hübner

Mirjam Hübner ist Diplom-Journalistin und arbeitet als Redakteurin und Kommunikationstrainerin. Sie verfügt über langjährige Erfahrung in Journalismus und Unternehmenskommunikation, vor allem in den Bereichen Gesundheit und Finanzdienstleistung.